Archiv von Juergen Moltmann



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 Jürgen Moltmann (1926 - )

Jürgen Moltmann (1926 - )

   Deutscher evangelischer Theologe. Zunächst als Pastor in Bremen (1954) und dann als Privatdozent in Göttingen (1957) tätig, wurde Moltmann 1958 als Professor für Dogmengeschichte und Dogmatik an die Kirchliche Hochschule Wuppertal berufen, 1963 nach Bonn und 1967 nach Tübingen. Er hat die Motive der niederländisch-reformierten »Reichstheologie« (Gottes Reich in Kultur und Gesellschaft) und utopischen Denkens (E. Bloch) für eine Bestimmung des Glaubens als Hoffnung ausgewertet.


  

Inhaltsverzeichnis

Die Vision der Welt in Gott
Gott ist die Kritik des Menschen
Zwingt der Glaube zum politischen Handeln   Christus
In der Erwartung der Parusie Christi
Mystik und Martyrium  



Die Vision der Welt in Gott
Weltverachtung und Leibfeindlichkeit sind der Mystik immer wieder zum Vorwurf gemacht worden. Es lassen sich auch leicht die Gedanken des neuplatonischen Idealismus und des gnostischen Dualismus in den Schriften der mystischen Theologen nachweisen. Um so mehr überrascht es, bei vielen von ihnen eine pantheistische Vision der Welt in Gott und Gottes in der Welt zu finden: »Alles ist eins und eins ist alles in Gott«, sagt die »Theologia Deutsch«, und für den Dichter-Mönch Ernesto Cardenal ist die ganze Natur nichts anderes als »fühlbare, materialisierte Liebe Gottes«, »Abglanz seiner Schönheit« und voller »Liebesbriefe an uns«

Die mystischen Theologen anerkennen gewi©¬ die alttestamentliche Schöpfungslehre, wie sie in der kirchlichen Dogmatik fortgesetzt wurde. Aber sie bevorzugen für ihre Vision der Welt aus Gott die Ausdrücke des >Gie©¬ens< und >Flie©¬ens<, der >Quelle< und des >Brunnens<, der >Sonne< und des >Leuchtens<. Und für ihre Vision der Welt in Gott verwenden sie die Ausdrücke der >Heimkehr<, der >Einkehr<, des >Versinkens< und der >Auflösung<.

Geistesgeschichtlich gesehen, ist das die neuplatonische Sprache von der Emanation aller Dinge aus All-Einem und ihrer Remanation in das All-Eine. Theologisch verstanden aber ist dies die Sprache der Pneumatologie. Im Unterschied zur Schöpfung und den geschichtlichen >Werken< Gottes wird der Heilige Geist >ausgegossen< auf alles Fleisch (Joel 2,28ff; Apg 2,16ff) und in unsere Herzen (Röm 5,5). Aus dem Geist wird man von neuem >geboren< (Joh 3,3). Die Geistesgaben werden nicht ex nihilo geschaffen, sondern entspringen aus dem Heiligen Geist. Es sind göttliche Kräfte. Der lebendigmachende Geist >erfüllt< die Schöpfung mit ewigem Leben, indem er auf alle >kommt< und in ihnen >einwohnt<. In der Geschichte des Heiligen Geistes wird eine andere Gottespräsenz offenbar als in der Schöpfung im Anfang. Menschen in ihrer Leiblichkeit (1. Kor 6,13—20), dann der neue Himmel und die neue Erde (0ff Joh 21) werden zum >Tempel<, dem Gott selbst einwohnt. Das ist der ewige Sabbat: die Ruhe Gottes und die Ruhe in Gott. Darum zielt die Geschichte des Geistes auf jene Vollendung, die Paulus mit der pantheistisch klingenden Formel beschreibt: »auf da©¬ Gott sei alles in allem« (1. Kor 15, 28). Diese Geschichte des Geistes, der auf alles Fleisch ausgegossen wird, und diese neue Welt, die in Gott verherrlicht ist, meinen die mystischen Theologen mit ihrer neuplatonisch klingenden Schöpfungs- und Erlösungslehre. »Wer Gott so, (d.h.) im Sein hat, der nimmt Gott göttlich und dem leuchtet er in allen Dingen, denn alle Dinge schmecken ihm nach Gott und Gottes Bild wird ihm aus allen Dingen sichtbar«.

Darin ist eine neue, spezifisch christliche Vision der Wirklichkeit verborgen, die von der geglaubten Inkarnation des Sohnes und der erfahrenen Einwohnung des Geistes Gottes geprägt ist. Die kirchliche Wiederholung der jahwistischen und der priesterschriftlichen Schöpfungslehre kann nicht als eine schöpferische Leistung der christlichen Theologie angesehen werden. Diese Schöpfungslehre kann christlich und nichtchristlich sein. In ihr wird eine Distanz von Schöpfer und Geschöpf mitgeteilt, die der christlichen Gotteserfahrung nicht entspricht. Wenn es wahr ist, da©¬ die israelitische Schöpfungslehre ein Reflex der Exoduserfahrung Israels war, dann mu©¬ die christliche Schöpfungslehre doch ein Reflex der Christus- und der Geisterfahrung der Christenheit sein. Der mystische >Pantheismus< ist theologisch gesehen gewi©¬ kein besonders gut gelungener Schritt in dieser Richtung, aber immerhin ein Schritt. Die Lehre des Gregor Palamas von den Energien des Heiligen Geistes führt an dieser Stelle weiter: »Die Welt flie©¬t über von göttlicher Kraft, die in ihr wirkt und sie erleuchtet«.

Wir kommen noch einmal auf die Begründung dieser pantheistischen Vision der Welt in Gott zurück:

Im Kreuzestod hat Gott das Böse, die Sünde und die Verwerfung auf sich genommen und im Opfer seiner unendlichen Liebe zum Guten, zur Gnade, zur Erwählung verwandelt. Alles Böse, die Sünde, das Leiden, die Verdammnis, ist >in Gott<. Es ist von ihm erlitten, in ihm aufgehoben, von ihm verwandelt »uns zugute«. Sein Leiden ist »das Wunder der Wunder der göttlichen Liebe« (Paul vom Kreuz). Davon kann nichts ausgeschlossen sein. Alles, was lebt, lebt deshalb aus der Allmacht seiner leidenden und aus der Unerschöpflichkeit seiner hingebenden Liebe21. Es gibt kein Nichts mehr, von dem bedroht die Schöpfung existiert. Denn das Nichts ist in Gott vernichtet und unvergängliches Sein ist in Erscheinung getreten. Aufgrund des göttlichen Kreuzes lebt darum die Schöpfung schon aus Gott und wird in Gott verwandelt.

Paulus hat diesen überwundenen Widerspruch zuerst an der Aufhebung des Gegensatzes von Leben und Tod in der Herrschaft Christi erkannt: »Leben wir, so leben wir dem Herrn. Sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn« (Röm 14,7ff). Die Zukunft dieser — Lebendige und Tote umfassenden — Präsenz Christi ist nach 1 Kor 15,28 die alles erfüllende Präsenz Gottes selbst.

Ohne das Kreuz Christi wäre diese Vision Gottes in der Welt reine Illusion. Das Leiden eines einzigen Kindes würde sie als solche erweisen. Ohne die Erkenntnis des Leidens der unerschöpflichen Liebe Gottes kann es kein >Pantheismus< in dieser Welt des Todes aushalten. Er würde alsbald zum Pannihilismus werden.

Die Erkenntnis des gekreuzigten Gottes gibt dieser Vision der Welt in Gott Grund und Bestand. In der Herrschaft des Gekreuzigten kommen Lebendige und Tote zur ewigen Gemeinschaft. In dem Kreuz des Auferstandenen versinken die Sünden und Leiden der ganzen Welt. Darum entsteht unter dem Kreuz die Vision: Gott in allen Dingen, alle Dinge in Gott. Wer Gott in der Gottverlassenheit des Gekreuzigten glaubt, der sieht ihn überall, in allen Dingen, so wie man nach einer Todeserfahrung das Leben intensiver, weil einmaliger als je zuvor, in jedem Augenblick erlebt.

Diese Vision der Welt Gottes ist lebendig in den Erfahrungen der Verfolgten und der Märtyrer, die Gottes Präsenz im Gefängnis spüren. Sie ist lebendig bei den Mystikern, die Gottes Präsenz in der dunklen Nacht der Seele finden. Sie leuchtet auf in der Frömmigkeit des einfältigen Daseins, dem Gott im Dunkel des gelebten Augenblicks präsent ist: »In ihm leben, weben und sind wir« (Apg 17,28), denn »von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge« (Röm 11, 36).
Aus: Jürgen Moltmann: Gotteserfahrungen: Hoffnung, Angst, Mystik
Kaiser Traktate 47 (S.65-69) © 1979 Gütersloher Verlagshaus GmbH, Gütersloh. Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung des Gütersloher Verlagshauses

Gott ist die Kritik des Menschen,
so hei©¬t unsere These. Sie steht im Gegensatz zur Grundlage der modernen anthropozentrischen Weltauffassung, nach der der Mensch das Kriterium Gottes ist. Mit der Renaissance und der Aufklärung begann das Zeitalter der Anthropologie, das anthropozentrische Zeitalter. Anthropologie im modernen emphatischen Sinn setzt aber eine preisgegebene Theologie voraus und versteht sich als deren Erbe. Einer der zentralen Mythen der neuzeitlichen Menschen ist der Mythos »Gott ist tot! Wir haben ihn getötet« (Nietzsche). Das Geheimnis der Theologie wurde als Anthropologie enthüllt. Nicht die Menschen sind das Ebenbild Gottes. Die Götter sind das Ebenbild des Menschen. Nicht die Menschen sind Geschöpfe Gottes. Die Götter sind die Geschöpfe menschlicher Angst und Sehnsucht. Ludwig Feuerbach gab diesem Verdacht des modernen Menschen seinen bleibenden Ausdruck in seiner Religionskritik. Er vertauschte dabei Subjekt und Prädikat und reduzierte alle Gottesprädikate auf das menschliche Subjekt: Das Bewu©¬tsein des Unendlichen ist nichts anderes als die Unendlichkeit des Bewu©¬tseins. Das Bewu©¬tsein Gottes ist nichts anderes als das Selbstbewu©¬tsein des Menschen. Gott ist eine Wunschprojektion des Menschen, der mit sich selbst zerfallen ist. Er ist sozusagen das bessere Selbst des Menschen, das dieser sich gegenüberstellt und dann anbetet. Wie kann der Mensch zu sich selbst kommen? Nur so, da©¬ er seine religiösen Wunschbilder als seine eigenen Projektionen durchschaut, sie sich aneignet und in sich zurücknimmt. Dann ist er nicht mehr der gespaltene Mensch, der sein besseres Selbst in den Himmel versetzt hat, sondern der mit sich einige Mensch, der sein besseres Selbst auf Erden verwirklicht. Feuerbach war in seiner Negation kritisch gegen die religiösen Bilder der menschlichen Angst vor sich selbst. In seiner Kritik folgte er dem alttestamentlichen Bilderverbot:

»Du sollst dir kein Bildnis noch Gleichnis machen. Bete sie nicht an und diene ihnen nicht« (2. Mose 20, 4). Er nahm die alte Tradition negativer Theologie auf: »Was Gott ist, wissen wir nicht« (Thomas von Aquin). In seiner Position aber wurde er selbst wieder religiös. »Die neue Philosophie macht den Menschen mit Einschlu©¬ der Natur ... zum alleinigen, universalen und höchsten Gegenstand der Philosophie — die Anthropologie also,... zur Universalwissenschaft.« »Mensch mit Mensch die Einheit von Ich und Du ist Gott.« Feuerbach glaubte also an alle Prädikate Gottes und übertrug sie nur auf den Menschen und die Menschheit. Ist nach Feuerbach das Geheimnis der Theologie die Anthropologie, so ist das Geheimnis seiner Anthropologie der Anthropotheismus (Vergottung des Menschen). Darum zog er die Konsequenz: »Die Politik mu©¬ unsere Religion werden, aber das kann sie nur, wenn wir ein Höchstes in unserer Anschauung haben, welches uns die Politik zur Religion macht.« Wenn aber die Politik zur Religion werden soll, was war dann der Sinn der Religionskritik? Wenn die Entgötterung des Himmels der Religion zur Vergottung des Menschen auf der Erde führt, was soll dann Anthropologie hei©¬en? Wenn die Entthronung Gottes den Menschen zum Gott seiner selbst macht, hat es keinen Sinn mehr, von Anthropologie zu reden. Gott ist tot und soll beerbt werden. Wenn aber der Erbe sich an seine Stelle setzt, so ist er kein Mensch mehr, sondern selbst Gott, wenngleich vielleicht nur erst »ein Gott im Werden« (R. Garaudy). Das Elend der modernen Anthropologie auf dem Boden einer beerbten Theologie liegt genau in ihren theologischen und religiösen Erbschaften. Als totaler Mensch, als idealer Mensch, als Möglichkeitsmensch oder Entscheidungsmensch mu©¬ der Mensch sich selbst leisten, was er nicht leisten kann. Die Vergottung des Menschen macht ihn nicht menschlicher, sondern eher unmenschlicher. Eine Anthropologie, die im neuzeitlichen, nachchristlichen Sinn die Theologie beerben will, verliert mit dem wirklichen Gott auch den wirklichen Menschen aus dem Auge. Da sie Gott und Mensch in eins setzt, kann sie nicht mehr sagen, von wem sie spricht.

Die Neuzeit hat den Menschen zum ikonoklastischen [bilderstürmerischen] Wort gegen Gott gemacht: von der menschlichen Selbsterkenntnis geht ein Bildersturm gegen die religiösen Götterbilder aus. Das aber bleibt nur so lange sinnvoll, wie auch umgekehrt der wirkliche Gott zum ikonoklastischen Wort gegen den Menschen wird: von der Gotteserkenntnis geht ein Bildersturm gegen die Menschenbilder aus, in denen sich der Mensch selbst bespiegelt, rechtfertigt und vergottet. Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis hängen wechselseitig zusammen, so da©¬ es keine Gotteserkenntnis ohne Selbsterkenntnis (und ohne Religionskritik) und keine Selbsterkenntnis ohne Gotteserkenntnis (und ohne Selbstkritik) geben kann. Nur im wechselseitigen Bildersturm der Kritik entsteht ein Verständnis der Transzendenz, die nicht entfremdet, aber auch nicht vergottet, sondern humanisiert, und ein Verständnis der Immanenz, die nicht resignieren und nicht tyrannisieren l䩬t, sondern endliche Freiheit ermöglicht. Anthropologie im emphatischen Sinne des Gottesmordes ist heute nicht mehr möglich. Die Anthropologie mu©¬ vielmehr ihren beanspruchten Anthropotheismus aufgeben, um wieder menschlicher vom Menschen zu sprechen und ihn nicht mit absoluten Forderungen zu überfordern, die er nur enttäuschen kann. Man mu©¬ schon Auschwitz und Hiroshima und die Contergankinder vergessen, um den Menschen für ein göttliches Wesen zu halten. Der Mensch wird dann menschlicher, wenn er in die Lage versetzt wird, seine Selbstvergottungen und seinen Götzendienst mit seinen Gewinnen und Errungenschaften zu lassen. Was aber versetzt ihn wirklich in diese Lage? Es ist die kritische Aufgabe der Theologie, der Anthropologie das Absolute und Totalitäre und die Gesetzlichkeit des Heils zu entziehen. die Theologie kommt erst zu sich selbst, wenn sie sich die anthropologische Religionskritik gefallen l䩬t und das Bilderverbot ernst nimmt. Umgekehrt kommt auch die Anthropologie erst auf den Boden der Wirklichkeit, wenn sie sich die kritische Theologie gefallen lässt, und das Ganz-Andere respektiert, an dem alle Selbsterkenntnisse des Menschen zu endlichen Fragmenten werden. Ohne jenes Ganz-Andere werden das sterbliche Glück und die unvollkommene Gerechtigkeit im Hiesigen unannehmbar. Ohne die Sehnsucht nach dem Ganz-Anderen verliert der Mensch die Würde seiner Fragwürdigkeit. Ohne Vertrauen in Gott erlahmen der Protest gegen die Ungerechtigkeit und der Kampf um Gerechtigkeit.
Aus: Jürgen Moltmann: Mensch Christliche Anthropologie in den Konflikten der Gegenwart. Gütersloher Taschenbücher / Siebenstern 338 (S.152-155)
© 1979 Gütersloher Verlagshaus GmbH, Gütersloh Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung des Gütersloher Verlagshauses

Zwingt der Glaube zum politischen Handeln
Diese Frage hat wenigstens zwei Fu©¬angeln. Zum einen möchte man gerne genauer wissen, von welchem Glauben hier eigentlich die Rede sein soll. Es gibt bekanntlich viele Formen des religiösen Glaubens. Es gibt Glaubensweisen, die starke Impulse und Motive für das politische Handeln enthalten, und es gibt andere Glaubensweisen, die überhaupt nichts für das politische Handeln hergeben, weil sie an der Welt der Politik gar nicht interessiert sind. Beide Glaubensweisen kommen bekanntlich auch im Christentum vor.

Welcher Glaube also nötigt zum politischen Handeln?

Zum anderen möchte mancher gerne im Voraus wissen, von welchem politischen Handeln gesprochen werden soll. Es ist nur menschlich, allzumenschlich, dass wir einen Glauben als Bundesgenossen begrü©¬en, wenn er unsere politischen Ansichten bestätigt. Wenn ein Glaube aber unseren politischen Vorstellungen und Wünschen ins Gesicht schlägt, dann möchten wir lieber, dass der Glaube sich überhaupt nicht ins politische Geschäft einmischt. Zu welcher Politik also soll der Glaube zwingen?

Wir beginnen mit dem grundsätzlichen Zweifel an einer Politik aus Glauben, wie er bei vielen Christen und Nichtchristen lebendig ist. »Wo soll das mit den Theologen noch hinführen?«, fragte Axel Springer kürzlich besorgt. den Chefredakteur des Hamburger Abendblattes, der eine Serie über die »Rebellen im Namen Christi« veröffentlicht hatte. Menschen wenden sich von Gott ab, und die Kirchen haben daran mit Schuld, so führte Axel Springer aus. Der Staat nahm der Kirche in den letzten Jahrzehnten die Verantwortung für die Linderung von Armut und Not ab. Statt sich nun stärker um die Seelsorge zu kümmern, haben aber die Kirchen, und besonders natürlich die Theologen, immer wieder nach anderen weltlichen Aufgaben Ausschau gehalten. Der Erfolg war ein Verlust an moralischer Autorität. Das Religiöse wurde verdrängt. Die Kirchen haben es zum Teil selbst preisgegeben, weil sie sich zu viel um Politik kümmerten. Helfen wir also dem modernen Menschen, meint Axel Springer, damit er wieder fähig wird zur Transzendenz und das Gute in der Welt sehen lernt. Helfen wir den Kirchen in dieser Zeit des Abfalls von Gott, damit sie wieder zu Bindegliedern zwischen den Menschen und dem Höchsten werden. Wenn aber die Kirchen diesen religiösen Auftrag der Seelsorge am Volk nicht richtig ausfüllen, so wird Springers Zeitungshaus diesen seelsorgerlichen Auftrag aus Verantwortung im christlichen Geiste übernehmen, wie es ihn seit dem Kriege immer schon beruhigend und entpolitisierend in unserem Volk ausgeübt hat.

Zwingt der Glaube zum politischen Handeln? Nach dieser Auffassung sicher nicht, wenigstens nicht direkt und keinesfalls in erster Linie. Hier ist Glaube etwas Seelisches, Religiöses und sehr Persönliches. Er ist Sinn für Transzendenz und sollte darum über politische Tagesfragen weit erhaben sein. Wenn er auf die Politik einwirkt, so nur im Sinne der M䩬igung gegenüber jedwelchem politischen und religiösen Radikalismus.

Für diesen Glauben sind in der Welt Gut und Böse vermischt. Göttliches und Teuflisches ringen miteinander. Auch der Mensch selbst ist gerecht und sündig zugleich. Der Glaube steht in dieser zweideutigen Welt und doch zugleich auch über ihr. Das dürfte im Positiven wie im Negativen das landläufige Bild vom Glauben und von der Rolle der Kirchen in der Politik sein. Versuchen wir zunächst herauszufinden, was daran positiv und was daran negativ ist.

Glaube ist hier Glaube an Gott, an ein höheres Wesen, an eine lenkende Vorsehung. Er ist religiöser Glaube und nicht politischer Glaube an eine Idee, einen Führer, eine Partei. Für diesen Glauben kommt das Heil nicht von der Politik, darum kann die Politik ihm auch nicht in einem letzten Sinne Unheil bringen. Dieser Glaube bezweifelt also den absoluten und den totalen Sinn des politischen Handelns. Für ihn ist das Politische etwas Irdisches, Vergängliches und Menschliches, jedenfalls etwas Nichtgöttliches. Wer so an Gott glaubt, der glaubt nicht mehr an die Caesaren.

In der Desillusionierung der Politik liegt das Positive dieses Glaubens. Er nötigt nicht zum politischen Handeln, so als hinge alles davon ab. Er befreit zum nüchternen Tun des politisch Notwendigen. Auf der anderen Seite wird jedoch gerade deshalb der politische Sinn solchen Glaubens bezweifelt. Wer sich damit beruhigt, dass Gott es schon machen wird, ganz gleich, was auch immer politisch geschieht, der wird unpolitisch. Er kann sich mit jedem Unrecht, das ihm selbst oder anderen passiert, abfinden. Weil er an einen Gott und eine gütige Vorsehung glaubt, braucht er sich um das politische Schicksal nicht zu viele Sorgen zu machen. Er hat an seinem Gott einen ewigen Trost und kann sich darum von der Weltverantwortung entlastet fühlen. Dieser Glaube, so sagen seine Kritiker, entnervt das politische Handeln und führt in eine kindliche Verantwortungslosigkeit zurück. Das ist das Negative daran.

Glaube kann weiter Hoffnung auf einen Himmel im Jenseits dieser Weltgeschichte sein. Wer darauf seine Hoffnung setzt, für den wird das Politische zum Vorletzten. Das Paradies lässt sich auf Erden nicht verwirklichen. Auf Erden ist und bleibt alles zweideutig. Leid und Mühe gehören nun einmal zu dieser Erde. Das Positive an dieser Ansicht liegt wohl darin, dass sie jeden politischen Standpunkt relativiert und allen totalitären Ansprüchen politischer Parteien Setz widerspricht. Das Negative aber liegt darin, dass diese Hoffnung auf ein Jenseits zur Resignation im Diesseits verführt. Ein heimliches Desinteresse an allen politischen Systemen und Aktionen ist stets das Ergebnis.

Ob Monarchie — ob Demokratie, ob Kapitalismus — ob Sozialismus: alle irdischen Gesellschaftsformen sind Gott und dem Jenseits gleich nah und fern. Man kann sich über gute und böse Verhältnisse hinwegtrösten. Der junge Karl Marx fand, dass diese Religion der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt und der Geist geistloser Zustände, also das sie Opium des Volkes sei. Erst wenn dieser religiöse Glaube aufgehoben wird, wird der Mensch zum politischen Handeln buchstäblich »gezwungen«. Denn die Kritik der Religion enttäuscht den Menschen, damit er denke und handle wie ein zu Verstand gekommener Mensch.

Dieser Glaube ist endlich ein Herzensglaube. Wer glaubt, ist trotz der Abhängigkeit von der Tradition und von der Gemeinschaft ist der Kirche auf sich allein gestellt. Glaube führt in die Vereinzelung hinein. Das Positive daran wird im unendlichen Wert der einzelnen Person vor Gott gesehen. Wer so glaubt, der ist in seinem innersten Wesen nicht mehr von politischen Interessen, von seiner Klassen- und Volkszugehörigkeit bestimmt. Er tritt der Gesellschaft frei und kritisch gegenüber. Viele preisen diesen christlichen Subjektivismus, aber man muss auch die negativen Folgen erkennen. Sie liegen in der politischen Indifferenz des Herzens. Wird einer durch Glauben in seiner innersten Seele unangreifbar, so werden ihm alle äu©¬eren Dinge unwichtig. Der Glaube bewahrt ihm die Reinheit des Herzens, und darum findet er, dass die Politik allemal ein »schmutziges Geschäft« sei. Wie die Geschichte zeigt, überlassen diese Gläubigen die Politik am liebsten anderen, und zwar solchen, die ihnen am meisten Ruhe und Sicherheit versprechen.

Es war Georg Herwegh, der einem Glauben, der nicht zum politischen Handeln für die Freiheit nötigt, vor hundert Jahren das bitterböse »Wiegenlied« sang:

»Deutschland — auf weichem Pfühle
mach dir den Kopf nicht schwer!
Im irdischen Gewühle
schlafe, was willst du mehr?

Lass jede Freiheit dir rauben.
Setze dich nicht zur Wehr.
Du behältst ja den christlichen Glauben:
Schlafe, was willst du mehr?«

Zwingt der ausgesprochen »christliche« Glaube zu einem bestimmten politischen Handeln? Wir haben bisher Formen des Glaubens besprochen, die zwar religiös zu nennen sind, aber die im Grunde nichts besonders Christliches an sich haben, abgesehen davon, dass sie auch von Christen praktiziert werden. Aber der allgemeine Glaube an Gott, die Hoffnung auf ein Jenseits und die fromme Innerlichkeit müssen ja noch nicht christlich sein.
Der christliche Glaube an Gott ist, wenn er sich als christlich ausweisen soll, Glaube an den gekreuzigten Christus, oder, wie Luther noch schärfer sagte: Glaube an den »gekreuzigten Gott«.

Zwingt dieser Glaube zum politischen Handeln? Ich denke, die Antwort ist eindeutig und lautet: Ja. Denn das Kreuz ist kein religiöses Symbol, sondern ein politisches Hinrichtungsinstrument gewesen. Es war eine politische Strafe. Wenn es auch richtig ist, dass Jesus nach dem Gesetz Israels als Gotteslästerer verurteilt wurde, so hat er doch nicht die damalige Strafe für Gotteslästerung, nämlich die Steinigung, erlitten, die die Juden durchaus vollstrecken durften, wie an Stephanus zu sehen ist. Die Kreuzigung aber war eine römische Hinrichtungsart und nur der römischen Besatzungsmacht vorbehalten. Es war nach römischem Recht die Strafe für politische Aufrührer gegen das römische Imperium. Nun war Jesus sicherlich kein jüdischer Freiheitskämpfer gewesen wie die beiden Zeloten, die mit ihm gekreuzigt wurden.

So wenig Jesus ein unpolitischer Wanderprediger war; ein »charmanter Tischler«, der auf sanftem Maultier von Dorf zu Dorf durch das lustige Völkchen der Galiläer zog, wie ihn die bürgerliche Romantik (E. Renan) beschrieb, so wenig war er ein Vorläufer von Che Guevara, wozu ihn die anti-bürgerliche Revolution machen möchte. Dennoch wurde er politisch hingerichtet, weil er die religiösen Grundlagen des römischen Imperiums bedrohte. Die Christen, die an Gott im Gekreuzigten glauben, sollten sich dessen wohl bewusst sein, denn im politischen Geschehen seiner Kreuzigung liegt der Ausgangspunkt und der Ma©¬stab für ihr politisches Handeln.

Wir können nur in Kürze die Konsequenzen beschreiben. Wenn der von der Staatsmacht mit dem Kreuz Geschändete der Christus Gottes ist, dann ist das in der politischen Vorstellung Niedrigste zum Höchsten verkehrt. Was der Staat zur tiefsten Entehrung bestimmt hat, das Kreuz, trägt dann die höchste Würde. Die Glorie Gottes ruht dann nicht mehr auf den Kronen der Mächtigen, sondern auf dem Leiden und Sterben des Erniedrigten. Wenn dieser Gekreuzigte den Christen zur höchsten Autorität wird, dann ist den politischen Gewalten und Autoritäten jede religiöse Rechtfertigung »von oben« entzogen. Wer an den Gekreuzigten glaubt, für den hört der politisch-religiöse Autoritätsglaube auf. Was ergibt sich daraus für das politische Handeln? Es entsteht daraus der entschlossene Kampf gegen den politischen Götzendienst, die politische Abgötterei, den politischen Personenkult und deren Folgen in politischer Bevormundung, Entfremdung und Apathie. Kein Bereich des Lebens ist so sehr von Abgöttern, die man über alles fürchtet und liebt, und von Entfremdungen und Unmündigkeiten, in die man geführt wird und denen man sich ergibt, durchzogen wie die Politik und die politische Religion eines Volkes. Durch das Kreuz Christi ist für die Christen den politischen Gewalten jede Rechtfertigung »von oben« entzogen. Politische Herrschaft kann dann nur noch »von unten« gerechtfertigt werden.

Vom Glauben an den Gekreuzigten geht ein politischer Bildersturm aus. Denn in repräsentativen Institutionen gibt es immer die Unterwerfung unter ein sichtbares Image; und das ist Idolatrie, Götzendienst. Die Puritaner in England und Amerika haben das noch gewusst. »Demokratie hat keine Monumente. Sie prägt keine Medaillen. Sie trägt nicht den Kopf eines Mannes auf ihren Münzen. Ihr wahres Wesen ist Bildersturm«, erklärte John Quincy Adams, der vierte Präsident der USA. Ist aber das wahre Wesen der Demokratie politischer Bildersturm und ein permanenter Revisionismus verfestigter Einrichtungen und Gewohnheiten, dann erfüllt das demokratische Handeln den Anspruch des Gekreuzigten auf die Christen. Die Befreiung vom Götzendienst und von der Passivität, die die Christen im Glauben an den gekreuzigten Gott erfahren, setzt sich dann um in die Befreiung von den politischen Religionen und den politischen Entfremdungen, die sie produzieren.

Die erste Wirkung des christlichen Glaubens auf die Politik ist der Exorzismus, der Bildersturm und die Entmythologisierung des Staates. Die zweite Wirkung muss dann folgerichtig in der Demokratisierung des öffentlichen Lebens bestehen. Die Krone sitzt nicht mehr auf dem Haupt eines Landesvaters, sagten die Puritaner, sie ruht auf der Verfassung der freien Staatsbürger. Sie haben damit die politische Standes- und Klassenherrschaft abgeschafft und durch den Staatsvertrag der freien Bürger ersetzt. Sie haben in ihren Staaten eine Fülle von Kontrollinstanzen für die Ausübung von politischer Herrschaft geschaffen, so dass es politische Herrschaft nur noch auf Zeit und kontrolliert durch die Öffentlichkeit gibt. Ich meine mit Demokratie hier nicht eine bestimmte Staatsform, die zum Ideal erhoben werden sollte. Ich meine mit Demokratie einen Weg und einen poli¬tischen Prozess der gemeinsamen Willensbildung, an dem möglichst viele Gruppen und einzelne in einer Gesellschaft aktiv beteiligt werden. Demokratie ist eine offene Prozessgesellschaft. Sie ist auf Zukunft angelegt; eine Zukunft der Freiheit und der Humanität, an deren Gestaltung schon jetzt alle Beteiligten aktiv teilnehmen sollen.

Aus dem christlichen Glauben daran, dass Gott nicht oben und nicht in der Ferne, sondern politisch unten in dem Gekreuzigten gegenwärtig ist, ergibt sich negativ die Befreiung der Politik von ihren Götzen und Dämonen. Es ergibt sich daraus positiv der demokratische Aufbau einer Gesellschaft von unten. Wurde für den Christen diese Freiheit in dem öffentlichen Geschehen der Kreuzigung Christi gewonnen, so muss er diese Freiheit auch öffentlich verantworten. Das bedeutet nicht, dass dieser Glaube wieder Caesars Definition der Politik annehmen müsse, wonach das Heil von der Politik kommt, wohl aber, dass er an der Heilung der Politik, ihrer Befreiung vom Aberglauben und von der Leichtgläubigkeit und ihrer Aktivierung durch die Teilnahme der Bürger an den Entscheidungsprozessen mitwirkt. Bildersturm und Demokratisierung von unten her sind die zwei wichtigsten Tendenzen, zu denen der Glaube im politischen Handeln zwingt — wenn er christlicher Glaube ist. S. 140ff.
Aus: Dialog mit dem Zweifel. Herausgegeben von Gerhard Rein. Kreuz-Verlag Stuttgart . Berlin. Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung von Herrn Gerhard Rein







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